Mein Heimatdorf war ein Apfeldorf
Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, war ein Apfeldorf. Irgendjemand in grauer Vorzeit, ein Mann mit dem Sinn für Schönheit der Landschaft, muss auf den Gedanken gekommen sein, Apfelbäume zu setzen. Er wird die Einwohner aufgefordert haben, hinter ihren Häusern, an den Straßen entlang und zur Abgrenzung der Äcker Apfelbäume zu pflanzen. Im Frühjahr brach aus dem knorzigen Gezweig rosafarbene und schneeigweiße Blüte und schäumte über das grüne Land, sodass die Leute von weither angereist kamen, um sich das anzusehen.
In späteren Jahren habe ich Landschaften kennengelernt, in denen es nach Pappelholz, nach Rotwein, nach Olivenöl, nach Milch, nach Stockfisch und sogar nach Whisky roch. Man hatte diesen Geruch immer in der Nase und wusste genau, wo man sich befand.
In meinem Heimatdorf roch es, wie gesagt, nach Äpfeln. Die Äpfel lagen winterlang umher und faulten vor sich hin, und niemand hob sie auf. Edelobst stand nur in den Hausgärten, die Goldparmäne zum Beispiel, der Gravensteiner und der Rote Boskoop. Aber bei den Äpfeln unter den Bäumen an der Landstraße handelte es sich um saure Sorten, die grau und fleckig aussahen. Wer hineinbiss, dem zog es das Fleisch im Mund zusammen.
Im Herbst wurde die Ernte von der Gemeindeverwaltung öffentlich versteigert und auf dem Baum verkauft, und immer war es derselbe Mann, der sich um den Zuschlag bemühte. Es war Herr Rappenhöner, ein vierschrötiger und betont raubautzig auftretender Unternehmer, der eine Fabrikationsstätte zur Gewinnung von rheinischem Apfelkraut besaß, die er „Betrieb" nannte.
Herr Rappenhöner bot den Kunden Apfelkraut in 25PfundEimern an, und es war allgemein bekannt, dass Apfelkraut blutreinigende Wirkung ausübe , und auch dem Charakter des Menschen wohltue. Ich habe in meinem Elternhaus auf dem Schwarzbrot nichts anderes zur Schule mitgenommen als Apfelkraut, und ich esse es heute noch. Ich bilde mir ein, dass mich Apfelkraut dem Finanzamt, der Verkehrspolizei und überhaupt meinen Feinden gegenüber sanft und nachgiebig macht.
Herr Rappenhöner ließ die sauren Äpfel aus den Bäumen am Straßenrand herausklopfen und einsammeln und auf die Wiese schütten, die hinter seinem Betrieb lag. Dort häuften sich die Äpfel zu baumhohen Hügeln, und von dort stieg auch der Geruch auf, von dem ich rede.
Über eine Rutsche wurden die Äpfel in einen kupfernen Kessel gelenkt, der einen Durchmesser von vier Metern und eine Tiefe von zwei Metern besaß. Hier wurden die Äpfel zu einem süßduftenden teerigen Brei verkocht. Um den Kessel lief rings ein hölzerner Steg, auf dem Herr Rappenhöner mit nacktem Oberkörper stand und mit einer löffelartigen Stange in dem dampfenden, schmatzenden, blasen werfenden Brei rührte. Der Kessel wurde von einem Assistenten mit Holz geheizt. Unten irgendwo tropfte zäh das Apfelkraut in Rappenhöners Blecheimer.
Da es in dem barackenartigen Gebäude dunkel war und Licht nur aus der Klappe des Heizkessel auf den halbnackten Mann mit einer Stange fiel, an der ebenso gut Gabelzinken sein konnten, hatte ich als Kind die Vorstellung, dass ich es hier mit der Hölle zu tun hatte, in der Sünder bestraft werden. Ich fürchtete mich sehr, und heute sehe ich hier eine Verknüpfung zwischen billigem Brotaufstrich und meiner Unfähigkeit zu revolutionärem Gebaren.
Damals, als es den „Tag des deutschen Baumes", den „Tag des deutschen Pferdes", den „Tag des deutschen Zitherklangs" und was weiß ich alles gab, reichte Herr Rappenhöner bei der Ortsgruppenleitung den Vorschlag ein, die Regierung zu bitten, einen „Tag des gesunden deutschen Apfels" einzuführen..
„Parteigenosse Rappenhöner", soll der Ortsgruppenleiter geantwortet haben, „gut, wir feiern einen ,Tag des gesunden deutschen Apfels'! Und was halten Sie von einem ,Tag der weichen deutschen Birne'?"
Dieser Mann, ich meine den Ortsgruppenleiter, ist nicht sehr lange im Amt gewesen, er war ihnen zu witzig oder was.